Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Ortsgruppe Frankfurt (Oder)

Wie sicher fühlen sich Radfahrende in der Stadt?

Wie erleben Radfahrende Sicherheit im Stadtverkehr – und warum weichen sie manchmal von den Regeln ab? Dr. Rul von Stülpnagel gibt Einblicke in seine Forschung zu Risiken, Wahrnehmung und Konflikten auf unseren Straßen.

Screenshot der Webseite regelverstoesse.de mit einer Deutschlandkarte. Blaue Kreise markieren Orte, an denen Verkehrsteilnehmende Regelverstöße im Radverkehr gemeldet haben.
Regelverstöße im Radverkehr: Die interaktive Karte des Projekts RULES zeigt, wo Verkehrsteilnehmende Konflikte und Regelverstöße melden. © 2025 Institut für Psychologie, Universität Freiburg / Screenshot: www.regelverstoesse.de

Dr. Rul von Stülpnagel beschäftigt sich an der Universität Freiburg mit der Frage, wie Radfahrende Risiken im urbanen Raum wahrnehmen und was ihr Sicherheitsempfinden beeinflusst. Im Interview mit dem ADFC spricht der Kognitionswissenschaftler über die Unterschiede zwischen Rad- und Autofahrenden, die Ursachen von Regelverstößen und darüber, wie eine bessere Infrastruktur das Miteinander im Straßenverkehr fördern kann.

Was ist genau Ihr Forschungsinteresse?
Ich arbeite an der Uni Freiburg in der Abteilung für Kognitionswissenschaft – einem interdisziplinären Feld, das sich mit den Prozessen des Denkens, Wahrnehmens und Entscheidens beschäftigt. Mich faszinierte anfangs besonders die Frage, wie unsere Umwelt – konkret: städtische Räume – unser Verhalten und unser Empfinden beeinflusst. Als ich dann 2014 auf eine Onlinekarte stieß, in der Münchner:innen Gefahrenstellen im Radverkehr markierten, hat mich das nicht mehr losgelassen. Was genau machte eine Kreuzung aus Sicht der Radfahrenden so viel gefährlicher als eine andere – und zwar nicht vom Verkehr aus gesehen, sondern aufgrund der räumlichen Struktur vor Ort? Seither beschäftige ich mich intensiv mit Fragen der Risikowahrnehmung und Sicherheit im urbanen Radverkehr.

Wie untersuchen Sie die subjektive Risikowahrnehmung beim Radfahren?
Wir arbeiten mit verschiedenen Methoden. In Online-Umfragen können Menschen Orte markieren, die sie als gefährlich empfinden – das gibt erste Hinweise. In Bildexperimenten zeigen wir veränderte Straßenszenen und fragen nach dem subjektiven Sicherheitsgefühl. Besonders spannend sind Eye-Tracking-Studien; Radfahrende tragen dabei eine Brille, die aufzeichnet, wohin sie in einer Situation schauen. Durch das Eye-Tracking stellten wir fest: Je unsicherer sich Radfahrer:innen fühlen, desto weniger schauen sie voraus. Sie fahren langsamer, der Blick wird enger. Entspannter und vorausschauender fahren sie auf Strecken, an denen sie einen guten Überblick über die Verkehrssituation haben und beispielsweise durch eine durchgehende Hecke oder Mauer auf einer Seite geschützt sind.

Porträtfoto von Dr. Rul von Stülpnagel: Mann mit kurzen braunen Haaren, schwarzer Brille und grauem T-Shirt vor weißem Hintergrund.
Dr. Rul von Stülpnagel erforscht an der Universität Freiburg die subjektive Risikowahrnehmung beim Radfahren. © Privat

Dr. Rul von Stülpnagel arbeitet als Wissenschaftler am Institut für Psychologie der Universität Freiburg im Bereich Kognitionswissenschaft. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Analyse subjektiver Risikowahrnehmung im urbanen Radverkehr. Seit 2014 untersucht er systematisch, wie räumliche Strukturen das Sicherheitsempfinden von Radfahrenden beeinflussen.

Aktuell leitet er das vom Bundesverkehrsministerium geförderte Projekt „RULES“, das in Kooperation mit der Universität der Bundeswehr München die Ursachen von Regelverstößen im Radverkehr erforscht. Ziel seiner Arbeit ist es, durch ein besseres Verständnis der Wahrnehmungsprozesse konkrete Empfehlungen für eine sicherere Verkehrsinfrastruktur zu entwickeln.

Welche Infrastruktur wird als sicher oder unsicher wahrgenommen?
Von Radfahrenden wird fast durchweg Mischverkehr bei 50 km/h mit vielen Autos als besonders unangenehm und unsicher erlebt, vor allem wenn dann noch Schwerlastverkehr hinzukommt. Auf baulich getrennten Wegen fühlen sie sich hingegen am sichersten – vor allem, wenn diese klar von Fuß- und Autoverkehr abgegrenzt sind. Interessanterweise fühlen sich baulich getrennte Radwege auch für Autofahrer:innen gut und sicher an. Spannend ist: Einfache Radfahrstreifen, die nur durch Farbe vom Autoverkehr abgesetzt sind, verbessern das Sicherheitsgefühl der Autofahrenden mehr als das der Radfahrenden. Radfahrer:innen profitieren zwar auch, aber eben vergleichsweise weniger, vor allem, wenn die Streifen schmal sind und neben parkenden Autos verlaufen. 

Unterscheiden sich Rad- und Autofahrende in ihrer Risikowahrnehmung?
Ja, grundlegend. Im Stadtverkehr ist die Wahrnehmung der Autofahrer:innen jene, dass sie selbst jemanden potenziell schädigen könnten. Die Radfahrenden sind diejenigen, die potenziell geschädigt werden könnten. Das ist natürlich ein riesiger Unterschied. Abgesehen davon ist die Risikowahrnehmung von Geschwindigkeiten unterschiedlich. Für Radfahrende sind 30 km/h schon sehr schnell, für Autofahrende ist das sehr langsam. Tempo 50 wird im Auto als sicher empfunden, Radfahrende, die von Autos mit 50 km/h überholt werden, empfinden das als unsicher. Autofahrende unterschätzen zudem häufig, wie belastend es für Radfahrende ist, wenn ein Auto knapp überholt. Umgekehrt erleben sie das Verhalten von Radfahrenden als gefährlich, etwa wenn sie sich zwischen den Autos durchschlängeln oder schnell noch ‚wo rüberziehen‘. Aus Sicht der Autofahrer erhöht dieses Verhalten das Risiko, dass sie die Radfahrenden übersehen und einen Unfall verursachen. Radfahrende versuchen hingegen auf diese Weise einfach besser durch volle Straßen zu kommen. Hier treffen zwei sehr unterschiedliche Perspektiven aufeinander.

Woher kommen die teilweise vorherrschenden gegenseitigen Vorurteile oder auch die Wut der Verkehrsteilnehmenden aufeinander?
Zum einen: Verkehr ist für viele grundsätzlich stressig. Wenn sich dann jemand – ob mit Rad oder Auto – „falsch“ verhält, wird das leicht auf die ganze Gruppe projiziert. Die eine Regelverletzung wird zur Begründung, alle anderen zu verurteilen. Dabei wollen die allermeisten niemanden gefährden. Die Wut entsteht zum anderen auch, weil sich unsere Städte über Jahrzehnte stark am Autoverkehr orientiert haben. Jetzt verändert sich das – mehr Menschen wollen Rad fahren, es gibt neue Regeln, Platz wird neu verteilt. Das sorgt für Reibung. Radfahrende stehen heute im Straßenverkehr im wahrsten Sinne des Wortes „dazwischen“ – zwischen den Autofahrenden, den parkenden Autos und den Fußgänger:innen. Sie fühlen sich zwischen den Rollen hin- und hergeworfen – mal sollen sie sich wie Autos, mal wie Fußgänger verhalten. Das schafft Frust auf allen Seiten. Und wenn dann auch noch der eigene Freiheitsanspruch bedroht scheint – sei es durch Stau, Zeitdruck oder das Gefühl, anderen scheint mehr erlaubt zu sein – dann entlädt sich das schnell in Wut. Verständlich, aber es zeigt: Wir müssen Verkehr neu denken – mit mehr Rücksicht füreinander.

Was können die Verkehrsteilnehmenden tun, um für sich und andere die Lage zu entspannen?
Wichtig ist Empathie: Also sich bewusst machen, wie sich Situationen für andere anfühlen. Radfahrende sollten etwa bedenken, wie sie auf Autofahrende oder Fußgänger:innen wirken, wenn sie plötzlich auf der Straße ausscheren oder auf Fußwege ausweichen. Autofahrende und Fußgänger:innen wiederum sollten nicht gleich böse Absicht unterstellen, wenn jemand auf der Straße beziehungsweise auf dem Fußweg fährt, statt auf dem Radweg – denn vielleicht ist der Radweg blockiert oder fühlt sich unsicher an. Ein kurzer Moment des Nachdenkens und in der Folge des rücksichtsvolleren Handelns oder ruhigeren Bewertens der Situation kann viel bewirken.

Das passt zu Ihrem aktuellen Projekt „RULES“, bei dem Sie sich mit der Frage beschäftigen, warum Radfahrende mehr oder weniger oft gegen Verkehrsregeln verstoßen. Das Projekt ist mir ein Herzensanliegen. In den Medien und der Gesellschaft werden Radfahrende oft als aggressive Verkehrsteilnehmende dargestellt oder wahrgenommen, die Verkehrsregeln entweder aus Rücksichtslosigkeit oder aus mangelnder Regelkenntnis brechen. Dem wollen wir mit dem Projekt RULES auf den Grund gehen, dass wir gemeinsam mit der Universität der Bundeswehr München durchführen. Es wird vom Bundesverkehrsministerium aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplanes gefördert. Sich bei Regelverstößen vor allem auf die Person zu fokussieren und dabei die tatsächliche Situation außer Acht zu lassen, scheint uns zu kurz gegriffen. Wir gehen davon aus, dass viele der Regelverstöße als Reaktion auf eine Verkehrssituation entstehen, die von Radfahrenden als unsicher, unklar oder unzumutbar wahrgenommen wird. Aus Sicht der Person ist ein wissentlicher Verstoß gegen eine Verkehrsregel damit eine mehr oder weniger rationale Entscheidung. In diesem Fall hilft Aufklärung nur bedingt – sondern nur bessere Planung.

Und wie finden Sie heraus, welche Regelverstöße begangen werden?

Meine Erfahrung ist, dass viele Radfahrende ein durchaus großes Bedürfnis haben, nicht nur über erlittene, sondern auch über selbst begangene Regelverstöße zu berichten – gerade, weil es aus ihrer jeweiligen Sicht absolut rational oder unumgänglich erscheint, so zu handeln. Deshalb haben wir eine Crowdsourcing-Kampagne zu dem Thema gestartet: Über die Onlineplattform www.regelverstoesse.de können Verkehrsteilnehmende jeder Art und anonym mit wenigen Klicks und freien Beschreibungen berichten, wo und vor allem warum es zu Regelverstößen im Radverkehr kommt. Wir hoffen, dass aus den Ergebnissen abgeleitet werden kann, wie Verkehrsräume und -regeln so gestaltet werden können, dass Regelverstöße seltener, und regelkonformes Verhalten einfacher werden – damit alle sicherer und entspannter an ihr Ziel ankommen.


Werde ADFC-Mitglied!

Unterstütze den ADFC und die Rad-Lobby, werde Mitglied und nutze exklusive Vorteile!

  • exklusive deutschlandweite Pannenhilfe
  • exklusives Mitgliedermagazin als E-Paper
  • Rechtsschutzversicherung
  • Vorteile bei vielen Kooperationspartnern
  • und vieles mehr

Dein Mitgliedsbeitrag macht den ADFC stark!

Zum Beitrittsformular
https://frankfurt-oder.adfc.de/neuigkeit/wie-sicher-fuehlen-sich-radfahrende-in-der-stadt

Bleiben Sie in Kontakt